In Deutschland kommen die Windkraftanlagen der ersten Generation nach und nach in die Jahre, alte Rotorblätter weisen Schäden auf, sind nicht mehr effizient genug, werden ausgetauscht und landen…. ja, wo eigentlich? Bis zu 80 Meter ist ein Rotorblatt heutzutage lang. Rund 7.500 davon werden Schätzungen zufolge künftig jedes Jahr ausrangiert. Sie zu schreddern, ist extrem aufwändig; der Transport ebenfalls. An der Hochschule Darmstadt denkt ein interdisziplinäres Team von Lehrenden und Studierenden deshalb in eine ganz neue Richtung: Alte Rotorblätter sollen zu Baumaterial werden. Der Phantasie sind dabei zunächst keine Grenzen gesetzt.
Von Christina Janssen, 27.6.2022
Man muss schon etwas genauer hinsehen, um zu erkennen, was es mit dieser Stadionüberdachung auf sich hat: Die Träger der Dachkonstruktion… erinnern die nicht an etwas…? Im Wintersemester 2021/22 haben sich die Bachelor-Studenten Lukas Bressler und Christian Lovric den Entwurf für das Wormatia-Stadion in Worms ausgedacht: Die Tragkonstruktion des Daches besteht aus 32 Meter langen Rotorblättern. Damit wurden die beiden Studenten der Aufgabe, die Architektur-Professor Marcin Orawiec und Lehrbeauftragte Jasmina Herrmann ihnen gestellt hatten, auf spektakuläre Weise gerecht: „Hier habt ihr ein Rotorblatt. Macht etwas daraus.“ Und zwar so, dass möglichst große Stücke davon verwendet werden.
Noch ist das alles nur eine Idee auf dem Papier: Anhand eines digitalen Rotorblatt-Modells haben Architektur-Student Bressler und der angehende Umweltingenieur Lovric ihren Entwurf ausgearbeitet. Mit 32 Metern Länge ist ihr Rotorblatt heute schon eine Art Miniatur-Exemplar: 70 bis 80 Meter sind inzwischen der Standard. Das ist deutlich höher als das h_da-Hochhaus (66 Meter), zwei davon ergeben einen Rotordurchmesser von der Höhe des Kölner Doms (157 Meter). Auch deshalb ist noch kein echtes Rotorblatt auf dem Campus der h_da gelandet. Keines der Hochschulgebäude ist groß genug, um mal eben einen Schwung Rotorblätter darin abzuladen, als hätte sich eine Horde Zyklopen zum Mikadospielen verabredet. Nach Alternativen wird derzeit gesucht.
„Das klassische Recycling ist keine Lösung“
Im Wintersemester haben Professor Orawiec und Jasmina Herrmann die erste Lehrveranstaltung zum Thema „Neues Leben für Rotorblätter“ am Fachbereich Architektur betreut. Ein „auch für uns nicht ganz alltägliches Thema“, schmunzelt Orawiec und spielt darauf an, dass der kreativen Phantasie der Architekten keine Grenzen gesetzt sind. Was auch bei Ingenieuren nicht ausgeschlossen ist: Der Anstoß, das Thema Rotorblatt-Recycling in Lehre und Forschung aufzugreifen, kam von Maschinenbauer Prof. Dr. Andreas Büter vom Fachbereich Maschinenbau und Kunststofftechnik der h_da. Bis 2020 leitete er die Fraunhofer Allianz Leichtbau. Büter ist somit ein ausgesprochener Spezialist für alles, was extrem leicht und dennoch extrem stabil sein soll – Tragflächen von Flugzeugen beispielsweise oder eben auch Rotorblätter für Windkraftanlagen.
Mit Orawiec und Herrmann fand Büter die perfekten Partner für sein Vorhaben: Beide befassen sich mit dem Nachhaltigkeitsthema „Urban Mining“. Dabei geht es im Kern um die Frage, wie man Baustoffe aus abgerissenen Gebäuden wiederverwerten kann, um Ressourcen zu schonen. Außerdem ergänzen Umweltingenieurin Prof. Dr. Iris Steinberg (Spezialgebiet Kreislaufwirtschaft) und Bauingenieur Dr. Markus Schmidt, Experte für Baustoffkunde, das Team mit ihrer Expertise. Unterstützt wird die Gruppe vom Fraunhofer-Institut für Windenergiesysteme IWES.
Mit 7.500 ausrangierten Rotorblättern pro Jahr entsteht allein in Deutschland eine unvorstellbare Menge an Material, das irgendwie verwertet werden muss. „Das ist auch der Wunsch von Windkraftbetreibern, die mit diesem Anliegen an uns herangetreten sind“, berichtet Andreas Büter. Wer nun an Recycling im herkömmlichen Sinne denkt – schreddern, einschmelzen, neu mischen – hat nur die zweitbeste Lösung im Sinn: Die äußere Schicht der Rotorblätter besteht aus komplexen, mit Glas- oder Karbonfasern verstärkten Kunststoffen. „Beim Häckseln werden diese langen Fasern zerstört. Das Material könnte dann nur noch als minderwertige Beimischung verwendet werden“, erläutert Büter.
Zum Kunststoff gibt es keine Alternativen
Es wäre das klassische „Downcycling“, und das mit riesigem Aufwand, denn ein Rotorblatt lässt sich nicht einfach so zerstückeln. „Das Material ist spröde. Normale Werkzeuge werden da sofort stumpf“, berichtet Büter. „Wir haben am Fraunhofer einmal versucht, ein Rotorblatt selbst zu zersägen. Am Ende musste ein Grabsteinsteinmetz kommen und das mit seinem Profi-Werkzeug erledigen.“ Beim Zersägen entstehen gesundheitsgefährdende Stäube und – wenn Karbonfasern beigemischt sind – elektrisch leitender Staub. „Wenn der sich in der Maschine absetzt, ist das Gerät sofort kaputt.“ Ergo: Schwer zu bauen, schwer zu zerstören.
Klar ist dennoch: Zum „geliebten“ Kunststoff (GFK oder CFK) gibt es keine Alternativen. „Wir haben am Fraunhofer-Institut auch andere Materialien für Windkraftanlagen geprüft, zum Beispiel naturfaserverstärkte Kunststoffe“, berichtet Büter. „Aber die Performance reicht nicht aus, die Anforderungen an so ein 80 Meter langes Rotorblatt in puncto Steifigkeit und Festigkeit sind enorm. Ohne Karbonfasern geht das nicht.“ Ganz zu schweigen von Aluminium und Stahl: Viel zu schwer, so die Auskunft des Experten.
Das Credo der Rotorblatt-Gruppe lautet daher: Je weniger gesägt wird, desto besser. „Aus den Rotorblättern Möbelstücke zu bauen, schied deshalb aus“, stellt Lehrbeauftragte Jasmina Herrmann klar. Think big. Dieses Kriterium hat das Stadiondach offenkundig erfüllt. „Wichtig war uns aber auch, etwas zu entwickeln, was man gegebenenfalls in Serie umsetzen kann“, sagt Herrmann. „Es werden ja immer weiter Rotorblätter anfallen.“ Mit dem kleinen Info-Pavillon, den Architektur-Student Niklas Murmann und Leon Liebenskind, Student des Umweltingenieurwesens, entworfen haben, könnte das klappen. Es besteht aus einem in fünf Teile zerlegten Rotorblatt.
„Eine gute Idee zu entwickeln, war schwer. Wir waren ja absolut frei in der Gestaltung. Das hätte also alles werden können, von der Gartenmauer bis zum Hochhaus“, erinnert sich Niklas Murmann an den Start ins Semester. „Wir haben uns dann dafür entschieden, diesen Info-Pavillon zu machen, den man zum Beispiel im Mittelgebirge oder an der Küste aufstellen könnte.“ In Regionen also, in denen Windkraftanlagen vorwiegend zum Einsatz kommen. So würden Alt und Neu einander gegenüberstehen. Unter dem Schatten spendenden Dach der kleinen Rotorblatt-Gebäude könnten Wanderer oder Strandbesucher Rast machen und sich über Besonderheiten des Standorts, die Region oder alternative Energie-Erzeugung informieren. „Es geht uns auch darum, eine inhaltliche Brücke zu bauen“, betont der angehende Umweltingenieur. „Wir möchten ein Verständnis dafür schaffen, wo eigentlich unser Wohlstand herkommt und dass der Strom aus der Steckdose nicht selbstverständlich ist.“
Aus Entwürfen sollen serienreife Prototypen werden
Murmann und Liebeskind sind ein ungleiches Paar, jeder bringt einen ganz eigenen Blick aufs Thema mit. „Wir haben die Studierendenteams gezielt interdisziplinär zusammengestellt“, sagt Jasmina Herrmann. Und der Lerneffekt blieb nicht aus. „Ich habe von Niklas gelernt, mit so einer ungewöhnlichen Form überhaupt erstmal umzugehen“, berichtet Leon Liebeskind. „So ein Rotorblatt ist am Ansatz rund, am Ende fast schon wie eine Messerklinge geformt. Niklas hat mir gezeigt, wie man das in 3D visualisieren und damit arbeiten kann. Das hat sehr geholfen.“ Neuland für den Umweltingenieur und vice versa für Architekt Niklas Murmann: „Für mich war es neu, die Ökobilanz so intensiv mitzudenken: zum Beispiel die Transportwege, möglichst auf Beton zu verzichten oder auf Materialien zurückzugreifen, die vor Ort vorhanden sind.“ Unterstützt wurden die beiden von Kuststofftechnik- und Bauingenieurstudierenden, die sie beispielsweise zu Fragen des Blattaufbaus oder der Statik berieten und dadurch weitere fachliche Perspektiven einbrachten.
„Unsere Studierenden-Teams haben interessante Lösungen vorgestellt“, freut sich Architektur-Professor Marcin Orawiec. „Was noch fehlt, ist der Nachweis, dass das auch in der Praxis funktioniert. Wir haben jetzt einen Turm, eine Stadionüberdachung, einen Pavillon und eine Brücke. Die nehmen wir als Leitbilder mit ins nächste Semester.“ Dann werden die Entwürfe im Detail weiterentwickelt, die Modelle exakt durchgerechnet, Fügeverfahren und Fundamente genauer betrachtet. „Sobald uns die Mittel und die Räumlichkeiten zur Verfügung stehen, würden wir das gerne zu einem Feldversuch machen.“ Ziel ist es, im Laufe der kommenden Semester Prototypen zu entwickeln, die man einem Industriepartner zur Produktion anbieten könnte. „Das wird uns aber erst gelingen, wenn wir etwas zum Anfassen haben.“ Bis es so weit ist, werden noch einige Rotorblätter aus luftigen Höhen verschwinden.
Was im Großen gelingt, kann auch im Kleinen funktionieren
Bei aller Begeisterung: Den Beteiligten ist klar, dass ihre Idee allein das Entsorgungsproblem der Windkraft nicht lösen wird. „Man wird mit dem, was wir hier machen, nicht alle Rotorblätter verarbeiten können“, konstatiert Professor Andreas Büter. Sonst müsste man die ganze Republik mit Rotorblatt-Bauwerken vollstellen. Bei dem interdisziplinären Projekt an der Hochschule Darmstadt geht es deshalb auch um die Signalwirkung: Die Bauwirtschaft insgesamt wird sich in den kommenden Jahren in Richtung Nachhaltigkeit und „Circular Thinking“ bewegen – oder bewegen müssen. Da sorgt das Rotorblatt-Thema vielleicht für Rückenwind. Denn was mit gigantischen Gebilden wie den Rotorblättern gelingt, müsste doch mit Ziegelsteinen, Fensterrahmen oder Dachbalken ein Leichtes sein.
Autorin: Christina Janssen, Originalbeitrag auf impact.
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