Mit Blick auf Klimawandel und endliche Ressourcen ist auch in Architektur und Bauwirtschaft ein radikales Umdenken vonnöten. Urban Mining ist eines der Konzepte, die den Weg in die Zukunft weisen. Die Idee: Gebäude werden von Beginn an so geplant und gebaut, dass möglichst alle Einzelbestandteile – von der Duschwanne bis zum Dachziegel – sinnvoll wiederverwertet werden können. Im impact-Interview erklären Architektur-Professor Marcin Orawiec und die Lehrbeauftrage Jasmina Herrmann von der h_da, was genau darunter zu verstehen ist und woran es noch hapert.
Ein Interview von Christina Janssen, 27.6.2022
impact: Herr Orawiec, Urban Gardening dürfte den meisten inzwischen ein Begriff sein. Was aber ist Urban Mining?
Marcin Orawiec: Beim Urban Mining geht es im Kern um die Frage: Wie gehen wir mit unseren natürlichen Ressourcen um? Es geht darum, eine echte Kreislaufwirtschaft zu etablieren, Baustoffe aus abgebrochenen Gebäuden wiederzuverwerten und den Raubbau an unserer natürlichen Umgebung zu stoppen.
impact: Die Stadt ersetzt beim Urban Mining also die Natur als Rohstoffquelle?
Jasmina Herrmann: So könnte man das sagen. Es geht im Prinzip darum, dass der Mensch in dem von ihm selbst geschaffenen Lebensraum, der Anthroposphäre, ein riesiges „Materiallager“ erschaffen hat. Dieses Lager wird immer größer: Die Rohstoffe aus der Erde werden immer weiter zu Autos, zu Gebäuden, zu Infrastrukturen verbaut. Das Lager wird zu groß und entsorgte Strukturen werden wieder in der Natur deponiert. Mittlerweile sind die Deponien – etwa im Rhein-Main-Gebiet – voll. Wir sind an einem Punkt angekommen, wo die Natur die verbrauchten Rohstoffe nicht mehr regenerieren kann. Deswegen müssen wir damit aufhören, Rohstoffe aus der Natur zu entnehmen, und uns stattdessen an dem bedienen, was das von uns selbst erschaffene „Lager“ bereithält. Man spricht inzwischen vom „Anthropozän“, dem Zeitalter des Menschen…
impact: Herr Orawiec, Sie lehren seit 28 Jahren Architektur an der h_da und führen in Aachen gemeinsam mit Ihrer Frau das Büro OX2architekten. Frau Herrmann, Sie haben vor zweieinhalb Jahren an der h_da Ihren Master in Architektur gemacht und engagieren sich jetzt als Lehrbeauftragte. Warum ist Ihnen beiden das Thema Urban Mining so wichtig?
Herrmann: Ich interessiere mich sehr für zukunftsweisende Themen. Mein Anspruch ist es, diese Themen an unserer Hochschule und in unserer Gesellschaft voranzubringen und die Studierenden dafür zu begeistern.
Orawiec: Mit Blick auf Bevölkerungswachstum und die globale Wirtschaft muss man sagen: Wir sind, was den Ressourcenverbrauch angeht, eigentlich am Ende. Das ist ein Thema in allen Wirtschaftszweigen. Für uns heißt das: Wir müssen unsere Studierenden so ausbilden, dass sie darauf angemessen reagieren und einen Beitrag zu mehr Nachhaltigkeit leisten können. Deshalb haben wir das Thema Urban Mining vor einigen Jahren als besonderen Schwerpunkt im Curriculum verankert.
impact: Was heißt das konkret für die Bereiche Bauen und Architektur?
Orawiec: In der Bauwirtschaft muss zwangsläufig über neue Produktionsprozesse nachgedacht werden. Es geht nicht mehr ums Recyceln, das ist das Denken der letzten 20 Jahre, wo wir mit enormem Energieaufwand irgendwelche Dinge verbrannt, aufgelöst oder anders verarbeitet haben, um scheinbar aus Altmaterial Neues zu schaffen. Das war eine Sackgasse. Urban Mining bedeutet, aus dem Bestand das zu entnehmen, was ohne großen Energieaufwand weiterverarbeitet werden kann.
impact: Ist das denn immer möglich?
Orawiec: Noch nicht. Deshalb ist das Wichtigste, heute so zu planen und zu bauen, dass wir Gebäude nach zehn oder zwanzig Jahren wieder in einzelne Teile zerlegen können. Aus diesen einzelnen Bauteilen werden dann neue Gebäude geplant und dann gebaut. Cradle to Cradle nennt man diesen Kreislauf, in dem Planungsprozess, Design, Konstruktion und Lebenszyklus grundsätzlich überdacht werden und dem Motto des „Circular Thinking“ unterworfen werden. Anfang 2021 sind wir mit diesem Thema in der Lehre gestartet, und kurz darauf haben sich Kolleginnen und Kollegen aus den Bereichen Bauingenieurwesen, Umweltingenieurwesen und Kunststofftechnik gemeldet, um Interesse an einer Zusammenarbeit zu bekunden. So kamen wir auf ein sehr ungewöhnliches Thema: die Nutzung ausrangierter Rotorblätter aus Windkraftanlagen. Im zurückliegenden Semester haben wir dazu eine erste Lehrveranstaltung angeboten, unsere Studierenden haben tolle Entwürfe abgegeben. An diesem Thema arbeiten wir jetzt als interdisziplinäre Gruppe an der h_da weiter.
impact: Egal ob Fenstergriff oder Rotorblatt – alles, was einmal verbaut war, soll also wiederverwertet werden. Das ist vermutlich komplizierter, als es klingt…
Herrmann: Dieses Thema wirbelt im Prinzip die ganze Bauwirtschaft durcheinander. Es gibt strikte Phasen, nach denen ein Bauablauf heute funktioniert: Wir fangen an mit einer Grundlagenermittlung, der Vorplanung, der Entwurfsplanung. Dann wird irgendwann der Bauantrag eingereicht und so weiter. Stattdessen müssten wir jetzt sagen: Wir schauen uns zuerst mal in der Region um, was gerade wo an Baustoffen vorhanden ist. Dann sehen wir: Da gibt es fünf Gebäude, die abgebrochen werden. Aus denen suchen wir uns die Materialien zusammen und machen eine Bestandaufnahme: Welche Dachsteine haben wir, wie viele Fenster gibt es, welche Maße haben sie? Mit dem, was wir dann haben, können wir etwas Neues entwerfen, sind dabei aber von den vorhandenen Maßen und Materialien abhängig.
So weit die Theorie. In der Realität ist es so: Das bestehende Gebäude soll weg. Wo lagern wir all die Baustoffe zwischen, bis der behäbige Behördenapparat alles geprüft hat und der langwierige Planungs- und Beauftragungsprozess durch ist? Woher wissen wir überhaupt, wo gerade etwas abgebrochen wird? Sind Materialien womöglich kontaminiert? Es müssen Kataster eingerichtet werden, also Systeme, aus denen hervorgeht, wie viel Material wo verbaut ist und wann das voraussichtlich frei wird. Und wir brauchen große Lagerstätten, wo Material abrufbar ist. Außerdem müssen gesetzliche Rahmenbedingungen geschaffen werden, die eine Basis für die Planung und Ausführung bieten.
impact: Ganz neu ist das alles ja dennoch nicht mehr. Auch heute schon werden beispielsweise Ziegelsteine oder Betonsteine nach einem Abriss geschreddert und wiederverwertet.
Herrmann: Es ist grundsätzlich gut, wenn Material nicht auf der Deponie landet. Aber auf diese Weise wird es downgecycelt: Es ist nicht in der gleichen Größe und der gleichen Nutzung weiterverwendbar. Unser Anspruch ist natürlich, Konstruktionen zu entwerfen, für die man die Materialien auf ähnlichem oder gleichem Niveau weiterverwenden kann. Die Maxime ist, Materialien soweit es geht nicht zu verkleben, sondern zu schrauben und zu klemmen. Ein konkretes Beispiel: Fensterrahmen nicht mehr einschäumen, sondern ausstopfen – so wie früher. Dann kann man sie ohne Beschädigungen wieder herausnehmen und alle Bauteile sauber trennen. Das lässt sich aber natürlich nicht auf alles übertragen. Wenn man ein Dach dicht haben will, dann muss man es eben dicht machen und die Folien verkleben oder verschweißen. Das ist eine Gratwanderung. Prinzipiell müssen aber alle Konstruktionen grundsätzlich neu gedacht werden.
Orawiec: Und der Weg dorthin führt über Anreize – etwa direkt beim Hersteller, der die Produkte auf den Markt bringt. Heute läuft alles nach dem Motto: Nach mir die Sintflut. Verkauft das Fenster, gebt fünf Jahre Garantie und alles andere interessiert uns nicht. Stattdessen müsste es für Produkte eine Art End-of-life-Garantie geben: Die Politik müsste Hersteller dazu verpflichten, ihre Fenster, Ziegelsteine oder Stahlträger nach 20 Jahren wieder zurückzunehmen, zu ertüchtigen und mit einer neuen Garantie wieder auf den Markt zu bringen. Und das verbunden mit einer Katalogisierung. Da gibt es beispielsweise die Initiative „Madaster“, ein digitales Kataster für Materialien, die systematisch erfasst und wieder verteilt werden. Das ist inzwischen zu einer beachtlichen Organisation angewachsen. Diese beiden Säulen – Anreize und Kataster – müssen zusammenkommen. Die dritte Säule sind die Baustoffhändler. Die rüsten sich schon für das neue Geschäftsmodell. Sie werden Wege und Orte finden, um die Zwischenlagerung zu ermöglichen.
impact: Für wie realistisch halten Sie es, dass all das einmal umgesetzt wird?
Orawiec: Ich bin sehr optimistisch, dass wir als Gesellschaft, auch als bauende Gesellschaft, diese Prozesse zustande bringen. Und umso wichtiger ist es, dass junge Menschen, die jetzt in diese Berufe einsteigen, im Studium darauf vorbereitet werden.
Herrmann: Das Ganze kann aber keine Fachdisziplin allein leisten, dazu braucht es ein Zusammenspiel vieler Expertinnen und Experten. Deswegen gehen wir das an der Hochschule Darmstadt gemeinsam mit ganz unterschiedlichen Fachdisziplinen an.
Autorin: Christina Janssen, Originalbeitrag auf impact
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