Zum Jahreswechsel lief eine Befragung des Bürgerpanels zur Zukunft von Stadtteilen und Orten. Die Befragung entstand in Zusammenarbeit mit dem Teilprojekt Zukunftsorientierte Stadtentwicklung im Rahmen des Transferprojekts Systeminnovation für Nachhaltige Entwicklung (s:ne). Teilgenommen haben 898 Bürger*innen aus Darmstadt und der Region. Die beiden wissenschaftlichen Mitarbeiterinnen Dr. Charis Stoica (Bürgerpanel) und Anna Wasmer (Zukunftsorientierte Stadtentwicklung) geben im Interview einen Einblick in die Ergebnisse.
Charis, das Bürgerpanel hat schon einige Befragungen durchgeführt, zum Beispiel zu Chemikalien in Lederprodukten oder zum Mobilitätsverhalten. Die Themen sind breit gefächert. Kürzlich habt ihr erneut eine Umfrage durchgeführt. Um was ging es da genau?
In der Befragung ging es darum, wie die Bürger*innen ihre Wohnorte wahrnehmen und wie diese noch attraktiver gestaltet werden können. Städte und Gemeinden sehen sich aktuell mit vielfältigen Herausforderungen konfrontiert, wie zum Beispiel Energie- und Verkehrswende, Corona-Pandemie, Klimaschutz und Klimaanpassung. Dafür braucht es teils tiefgreifende Veränderungen und auch neue Lösungsansätze. Der Erfolg solcher Ansätze hängt dabei maßgeblich davon ab, wie die Menschen, die sie betreffen, dazu stehen. Deshalb haben wir diesmal gezielt über Aktivitäten am Wohnort, Veränderungen und zu Maßnahmen für eine zukunftsorientierte Stadtentwicklung gefragt.
Was waren wesentliche Erkenntnisse aus den Antworten?
Die erste Erkenntnis war, dass sich die Teilnehmenden alles in allem gerne in den Stadtteilen beziehungsweise Orten, in denen sie wohnen, aufhalten. Das variiert natürlich, aber im Großen und Ganzen sind die meisten zufrieden.
Eine zweite wichtige Erkenntnis ist, dass laut den Teilnehmenden Bäume und Begrünung, Zugang zu Wasser; Erreichbarkeit durch ÖPNV, Fahrrad- und Auto-Infrastruktur; sowie ein Mix aus Geschäften, Gastronomie und Dienstleistungen die wichtigsten Eigenschaften attraktiver Stadtteile und Orte darstellen.
Anna, wie ordnest du diese Ergebnisse ein?
Dass die Teilnehmenden sich an ihren Wohnorten gerne aufhalten, war für mich eher wenig überraschend, da sie mit den Erkenntnissen aus anderen Studien über Darmstadt und die Region übereinstimmen, zum Beispiel im Prognos Zukunftsatlas, der Darmstadt und der Region insgesamt eine hohe Lebensqualität bescheinigt. Darmstadt ist regelmäßig in den Top zehn der Städte- und Regionsrankings.
In unserer Befragung wurden, wie Charis bereits erwähnt hat, Bäume, Begrünung und Zugang zu Wasser von mehr als 85 Prozent der Befragten als eine der fünf wichtigsten Eigenschaften attraktiver Stadtteile genannt. Eine Befragung der Wissenschaftsstadt Darmstadt zu städtischen Grünflächen hat wiederum gezeigt, dass die Befragten insgesamt eine positive Meinung zu den Grünanlagen in Darmstadt haben und sich gerne dort aufhalten. Der Zugang zu Grünflächen dient auch der Erholung und wird als Grunddaseinsfunktion bezeichnet. Der etwas sperrige Begriff steht für Leistungen oder Aktivitäten, die grundlegende menschliche Bedürfnisse erfüllen, zum Beispiel wohnen, arbeiten, sich erholen oder sich versorgen. Wir wollten in unserer Befragung wissen, wie wichtig es den Teilnehmenden ist, dass sie diesen Aktivitäten in ihrem Stadtteil oder Ort nachgehen können. Die Ergebnisse zeigen, dass es für die Befragten wichtig ist, diesen Aktivitäten in ihrem Stadtteil oder Ort nachgehen zu können und auch, dass es überwiegend gut möglich ist.
Charis, möchtest du hier noch etwas ergänzen?
Ja, mir ist wichtig zu erwähnen, dass es auch hier regionale und individuelle Unterschiede gibt. So haben zum Beispiel Teilnehmende aus Darmstadt Wixhausen eher als Teilnehmende aus anderen Stadtteilen das Gefühl, den meisten dieser Aktivitäten nicht so gut nachgehen zu können, obwohl sie ihnen wichtig sind.
Insgesamt zeigen diese Fragen Ansatzpunkte auf, um Stadtteile bzw. Orte lebenswerter zu machen, nämlich bei denjenigen Aktivitäten, denen nicht so gut nachgegangen werden kann, obwohl sie als entsprechend wichtig eingestuft wurden. Das waren über alle Orte und Teilnehmenden hinweg vor allem „Dinge des täglichen Bedarfs einkaufen“, „Gastronomie besuchen“, „Dienstleistungen wie Arztbesuche, Friseur, Post, Anwalt oder Rathaus in Anspruch nehmen“, „Kulturelle Angebote nutzen und Veranstaltungen besuchen“ und „Grünflächen und Parks nutzen“. Natürlich ist bei der Interpretation der Ergebnisse zu beachten, dass wir die Befragung während der Corona-Pandemie durchgeführt haben und einige Aktivitäten – zum Beispiel Gastronomie und Kulturangebote – somit eingeschränkt waren.
Anna, was habt ihr für Ideen, um diese Ansatzpunkte zu nutzen?
Wir sehen anhand der unterschiedlichen Aktivitäten, die genannt wurden, dass es hier auch um eine Angebotsvielfalt geht. Ein lebenswerter Stadtteil beziehungsweise Ort zeichnet sich dadurch aus, dass ich dort unterschiedlichen Aktivitäten nachgehen kann. Neue Geschäftsmodelle, die Angebote kombinieren, könnten hier eine gute Möglichkeit sein, um auch bei geringem Flächenangebot eine Angebotsvielfalt zu ermöglichen. Ein Buchladen, in dem ich auch Kaffee trinken kann oder Einzelhandel, der auch Dienstleistungen wie Reparaturservices anbietet, sind hier mögliche Beispiele. Um neue Angebote zu erproben, eignet sich auch die Zwischennutzung von Leerständen. Auf diese Weise kann ein neues Angebot erst mal experimentell getestet und bei Erfolg dauerhaft etabliert werden.
Wir dürfen aber auch nicht vergessen, dass es ebenso wichtig ist, nicht-kommerzielle Aufenthaltsorte in den Stadtteilen/Orten zu ermöglichen. Eine innovative Idee für eine mobile Grünfläche ist zum Beispiel das Grüne Zimmer in Darmstadt. Diese Art von Angeboten könnte noch weiter ausgebaut werden. Im Rahmen einer Förderung durch das Landesprogramm „Zukunft Innenstadt“ können experimentelle Maßnahmen zu den oben genannten Ideen erprobt werden. Wir stehen dazu in engem Austausch mit den Kommunen Michelstadt, Bensheim und Dieburg.
Charis, in den Medien wird viel über Veränderungen in Stadtteilen und Orten berichtet. Nehmen die Bürger*innen diese auch wahr?
Ja, teilweise. Am häufigsten ist den Teilnehmenden aufgefallen, dass sich etwas in Richtung Mobilität tut, also dass z.B. neue Mobilitätsangebote wie ein Rufbus oder Sharing-Angebote für Fahrräder geschaffen wurden oder der ÖPNV ausgebaut wurde. Außerdem wurden auch neue individuelle Ladengeschäfte oder Gastronomie, zum Beispiel so genannte „Pop-up-Stores“ oder „Repair Cafés“, wahrgenommen und die Teilnehmenden sahen mehr oder neu gestaltete Flächen, zum Beispiel Plätze oder Parks. Es scheint aber auch Veränderungen zu geben, die weniger stattfinden oder deutlich seltener wahrgenommen werden, wie zum Beispiel die Schaffung von neuen Arbeitsplätzen oder bezahlbarem Wohnraum. Auch hier gibt es regionale Unterschiede, über die wir gerne bei Interesse Auskunft geben.
Ihr habt auch nach Einstellungen zu energetischer Sanierung, Nachverdichtung und Verkehrsberuhigung gefragt – Was waren hier die wesentlichen Punkte, Charis? Gingen die Meinungen stark auseinander?
Ja, gerade im Vergleich dieser drei Maßnahmen sehen wir deutliche Unterschiede. Während die Zustimmung zu energetischer Sanierung und Verkehrsberuhigung relativ hoch ausgeprägt ist, variiert sie in Bezug auf die Nachverdichtung stark. Wenn wir noch genauer in die Ergebnisse schauen, sehen wir zum Beispiel, dass besonders jüngere Teilnehmende, Teilnehmende mit höherem Einkommen und Immobilien-Eigentümer*innen die energetische Sanierung befürworten. Eine Verkehrsberuhigung unterstützen die Teilnehmenden eher, wenn sie diese Maßnahme für dringend notwendig und für gut für die Menschen im Stadtteil beziehungsweise Ort halten. Bei der Nachverdichtung zeigt sich, dass vor allem Personen, die sich mit ihrem Wohnort besonders verbunden fühlen und befürchten, dass dieser durch die Nachverdichtung für sie an Bedeutung verlieren würde, diese Maßnahme ablehnen.
Was könnte aus eurer Sicht getan werden, um derartige Maßnahmen zu unterstützen?
Es ist wichtig, auf die Befürchtungen der Bewohner*innen einzugehen, den Dialog zu suchen und frühzeitig zu zeigen, dass zum Beispiel auch eine „behutsame“ Nachverdichtung möglich ist. Oft manifestieren sich Befürchtungen in Form bestimmter Bilder im Kopf. Auf diese Ängste sollte eingegangen werden, sie sollten adressiert und nicht ignoriert werden. Dazu lässt sich anhand von Beispielen zeigen, wie eine maßvolle Nachverdichtung aussehen kann. Neben der frühzeitigen Information sollten dort, wo es möglich und sinnvoll ist, auch Einflussmöglichkeiten für Bewohnerinnen geschaffen werden. Wenn wir bei dem Beispiel der Nachverdichtung bleiben, dann könnten Bürger*innen nach ihrer Meinung zu verschiedenen Entwurfsalternativen für eine geplante Nachverdichtung befragt und diese Meinungen bei der Umsetzung berücksichtigt werden.
Anna, wie geht es mit all den spannenden Ergebnissen jetzt weiter?
Die Ergebnisse fließen nun in unsere weitere Arbeit im Teilprojekt „Zukunftsorientierte Stadtentwicklung“ ein. Auch wenn die Befragung insgesamt ein positives Bild der Stadtteile und Orte zeichnet, so gibt es doch Unterschiede, die wir uns noch genauer ansehen werden.
Während des letzten Jahres haben wir mit den Kommunen Bensheim, Dieburg, Michelstadt und Erbach schon intensiv an Ideen für die zukünftige Entwicklung der Innenstädte gearbeitet. Wir werden nun ganz konkret im Teilprojekt Zukunftsorientierte Stadtentwicklung die Stadt Dieburg bei der Entwicklung einer Innenstadtstrategie unterstützen. Es ist geplant hierfür in mehreren Workshops unterschiedliche Personengruppen aus Dieburg einzubinden. Die Erkenntnisse aus der Befragung liefern einen wichtigen Input und helfen uns dabei eine zielgerichtete Strategieentwicklung zu verfolgen.
Zudem kommunizieren wir die Ergebnisse aktiv in unserem Netzwerk und teilen sie mit wichtigen Schlüsselpersonen aus der Region, damit die Meinungen und Wünsche der Teilnehmenden berücksichtigt und unsere Wohnorte tatsächlich noch attraktiver und lebenswerter werden können.
Charis, wo können Interessierte mehr zu den Ergebnissen für eine zukunftsorientierte Stadtentwicklung erfahren?
Auf der Website des Bürgerpanels gibt es eine Zusammenfassung der Befragungsergebnisse. Tiefergehende Analysen können auch jederzeit beim Bürgerpanel per E-Mail (buergerpanel@h-da.de) angefragt werden.
Wir planen außerdem eine digitale Informationsveranstaltung, auf der wir die Ergebnisse der Befragung allen Interessierten vorstellen wollen. Ort und Zeit kündigen wir vorher auf der Website des Bürgerpanels an. Und zum Thema „Der Donut Effekt – Zur Zukunft von Innenstädten und Orts(teil)mitten“ läuft noch bis zum 21. Mai 2022 eine Ausstellung in der Schader Stiftung.
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